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Aufsätze

jsm_2011Druckfrisch liegt die Sichtmarke für die Aikidopässe der Mitglieder den Abteilungen und Vereinen der Aikido-Union Deutschland vor. Die Präsidiumsmitglieder haben für das Jahr 2011 das folgende Motiv ausgesucht.

Nach unserer Betrachtung der Elemente im fernöstlichen Kulturkreis in den vergangenen Jahren gilt unser Blick nun einem Grundstoff, der in der griechischen Antike an oberster Stelle der Vier-Elemente-Lehre steht: Luft. Ausgehend von den Vorläufern Thales von Milet, Anaximenes, Heraklit erhielt diese Lehre ihre breiteste Wirkung durch den griechischen Naturphilosophen Empedokles im 5. Jahrhundert v. Chr., der alles Sein als den Wechsel von Erde, Feuer, Wasser und Luft dachte, die durch die Mächte der Liebe und des Hasses bewegt werden. Weiterentwickelt wurde dieses Denksystem in der hochklassischen Epoche durch Platon und Aristoteles. Ihre Theorie wurde in Europa über das Mittelalter erhalten und blieb in der Medizin sogar bis zur Aufklärung bestimmende Grundlage. Noch Johann Wolfgang von Goethe ließ seinen Faust im gleichnamigen Drama, 1. Teil, das er 1806 abschloss, folgendes sagen: 

Wer sie nicht kennte,
Die Elemente,
Ihre Kraft
Und Eigenschaft,
Wäre kein Meister
Über die Geister.

Auch in der Alchemie des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit spielen die vier Elemente eine wesentliche Rolle. Nach der Abspaltung des Begriffes Chemie wurden die Aggregatzustände geprägt, die vier Elemente verblieben in der esoterischen Richtung der Alchemie. In der Wissenschaft der Chemie finden wir Erde, Wasser, Feuer und Luft als Elemente nicht. Dennoch behalten sie in der Kultur des Abendlands bis heute ihre Bedeutung.


jsm_2011

Platon ordnete dem Element Luft als regelmäßigen Körper den Oktaeder zu, Aristoteles die Eigenschaften heiß und feucht. In der Astrologie sind es die Tierkreiszeichen Zwillinge, Waage und Wassermann, die vom Element Luft bestimmt werden. Der Schweizer Arzt und Naturforscher Paracelsus benannte im 16. Jahrhundert unter den Elementarwesen auch Luftgeister oder Sylphen. Von den vier Erzengeln des Alten Testaments gehört Raphael zum Element Luft, von den vier Himmelsrichtungen der Osten und von den vier Temperamenten das des Sanguinikers. Symbole dieses Urstoffs sind der Himmelskreis und die Farbe Blau, wie auf der diesjährigen Marke dargestellt. Luft versinnbildlicht geistige Ideen, Gedanken und Prinzipien, die man ebenso wie Luft nicht mit Händen greifen kann

Aus heutiger wissenschaftlicher Sicht ist Luft das Gasgemisch der Erdatmosphäre, es besteht hauptsächlich aus den zwei Gasen Stickstoff und Sauerstoff. Letzteres ist für alle aeroben Landlebewesen, also auch für uns Menschen, zum Überleben notwendig, weil sie es durch die Atmung für ihren Stoffwechsel benötigen.

In den Schönen Künsten gibt es zahlreiche Darstellungen der Lufterscheinungen, nicht zuletzt durch die Zuordnung zu einer Gottheit bereits seit Empedokles. Luft wird durch die griechische Göttin Hera oder die römische Göttin Juno symbolisiert. Durch die Personifizierung bekam das Luftelement Charaktereigenschaften: quirlig, flexibel, veränderungsorientiert und aktiv.

Aus der Vielzahl der bildenden Künstler greife ich den italienischen Renaissance-Maler Sandro Botticelli heraus. Wohl kein Betrachter, der in der Galerie der Uffizien in Florenz vor seiner „Geburt der Venus" (ca. 1486) stand, kann sich dem Charme entziehen, die seine allegorische Darstellung der Luft in den beiden Windgottheiten des Zephyr ausmacht, die die Göttin in einer Muschel an Land pusten.

In den Darstellenden Künsten hat mich einmal in einer Aufführung im Staatstheater Wiesbaden zutiefst das französische Ballett „La Sylphide" von 1832 beeindruckt, das zu einem Schlüsselwerk der Romantik wurde. Der weibliche Luftgeist wird hier von einer geflügelten Tänzerin auf Spitzenschuhen verkörpert, die mit ihrer leichten Anmut den schottischen Helden verführt. Sein Versuch, sie an sich zu binden, scheitert - tödlich für die Sylphe.

In der deutschen Literatur fällt mir spontan der Schriftsteller Theodor Fontane ein, der seine Heldin Effi Briest schon im Eingangskapitel seines gleichnamigen Werks von 1896 als „Tochter der Luft" bezeichnet. Symbolisiert durch die Schaukel im elterlichen Garten, wird hier das Luftig-Leichte zur Gefährdung, weil die Leichtigkeit im Charakter Effis schnell in Leichtsinn umschlagen kann und so letztendlich im Laufe des Romans zur Katastrophe führt.
Im „Kraftwerk der Gefühle" namens Oper werden mehrere Künste unter dem Primat der Musik vereint. Die künstlerisch ausgearbeitete Liedform der Oper heißt Arie. Dieser Begriff leitet sich ab vom italienischen „aria" und bedeutet dort im allgemeinen Sprachgebrauch „Luft". Analog dazu wird in der englischen und französischen Sprache das Wort „air" verwendet. Für den Sänger einer Arie ist viel Luft in seinen Lungen nötig, um mit gestütztem Atem die Melodiebögen zu meistern. Ein Luftholen zwischendurch würde die Schönheit der musikalischen Phrase zerstören. Im Gesangsstudium wird ein kontrollierter langer Atem gelehrt.

Kontrolle des Atems - das ist auch ein Schlüsselwort in unserer Kunst der Selbstverteidigung. Natürlich brauchen wir auf körperlicher Ebene eine gut funktionierende Atmung, um Aikido überhaupt trainieren zu können. Darüber hinaus manifestiert sich aber im zentralen Aikido-Begriff „Kokyu" eine viel weitergehende Bedeutung: der Atem des Lebens, der universale Fluss schwingender Energie. Das japanische „Ko" kann man zunächst ganz einfach mit Ausatmen übersetzen, „kyu" mit Einatmen. Nach fernöstlicher Ansicht sind Atem und Ki (innere Lebensenergie) gleichen Ursprungs. Ki kann beim Einatmen aufgenommen und beim Ausatmen in einen Körper oder Raum verteilt werden. Dabei soll sich das Ki des Verteidigers durch Atem-Rhythmus und Bewegung dem Ki des Angreifers anpassen und mit ihm verbinden. Kenzo Awa (1880-1939), der japanische Meister im Zen und Kyudo, sagte dazu:

Das Einatmen bindet und verbindet,
im Festhalten des Atems geschieht das Rechte,
und das Ausatmen lässt los, löst und vollendet,
indem es alle Beschränkungen überwindet.

Unter Nage-waza, den Aikido-Verteidigungstechniken im Stand, nimmt der Atemkraft-Wurf Kokyu-nage einen ganz besonderen Platz ein. Nicht ohne Grund erscheint er in den Prüfungsanforderungen der Aikido-Union Deutschland erst für den Shodan, den ersten Meistergrad. Aus den verschiedenen Angriffen ergibt sich eine Vielzahl von möglichen Ausführungen. Der Uke wird immer über eine Verbindung von Hand zu Hand oder Arm geworfen. Allen Variationen ist gemeinsam, dass der Nage einatmend die Angriffsenergie des Uke mit entsprechendem Sabaki aufnimmt und neutralisiert. Die Gleichgewichtsbrechung erzeugt eine Leere beim Uke, die Nage mit seiner konzentrierten Atemkraft ausfüllen und mit einem dynamischen Wurf beenden kann.

Atmen bestimmt unser ganzes Leben, mit dem ersten Atemzug werden wir geboren, mit dem letzten sterben wir. Der Mensch IST Atem. Daher sagen die Chinesen: „Als erstes und vor allem anderen kommt der Atem". Unser Atmungssystem funktioniert unwillkürlich: es atmet uns. Aus- und Einatmen symbolisieren Geben und Nehmen, die zwei Urphänomene des Universums. Wie wir atmen, spiegelt etwas von unserem persönlichen inneren Zustand. Damit wir diesen Zuständen nicht unterliegen, kann eine aufmerksam überwachte Atmung unser Innenleben regulieren. Wir nehmen ja nicht nur den Sauerstoff auf, der so lebensnotwendig ist, sondern auch die geistig-spirituelle Energie des Elements Luft. Der Atem fungiert als eine Brücke zwischen unserem Körper und unserem Bewusstsein. Konzentrierter Atem ist gleichsam eine Tür, durch die wir unseren unsteten Geist kontrollieren können. Der Geist kann über das Gestern oder das Morgen nachdenken, aber unser Atem ereignet sich immer in der Gegenwart, im HIER und JETZT. Das angemessene Atmen bedeutet den Königsweg zum eigenen Selbst.

Für 2011, das Jahr der Luft, wünsche ich allen Mitgliedern der Aikido-Union Deutschland viel gesunde Atemenergie und steten Fortschritt in der Kunst, den Atem zu beherrschen. So hoffe ich, dass alle mehr und mehr zu sich selbst finden, in harmonische Beziehung zu sich und ihrer Umwelt treten und sich immer aus sicherer Mitte bewegen – nicht nur im Aikido.

Harald Ketzer
Aikido-Club Bergen-Enkheim e.V.