Aufsätze

jsm_2005Für die Jahressichtmarke 2005 hat das Präsidium der AUD das Rad als Symbol ausgewählt. Allgemein gesehen bedeutet das Rad Bewegung, es steht für alle zyklischen Prozesse, den menschlichen Lebenslauf, es symbolisiert die Welt oder den Kosmos, aber auch die Weltherrschaft. In vielen Kulturen taucht es auf. Schon in der Steinzeit verkörpert es die Sonne und ihren Weg um die Erde (die Speichen des Rades sind die Sonnenstrahlen).  Auch in der Antike wird es so verwandt: das Sonnenrad stellt beispielsweise den Wagen des griechischen Sonnengottes Helios dar. In den asiatischen Religionen spielt das Rad eine besonders wichtige Rolle: im Hinduismus verweist es mit seinen acht Speichen auf die Wagenfahrt des indischen Sonnengottes Surya, es ist Attribut des uralten vedischen Gottes Varuna, des Schöpfers und Erhalters von Himmel und Erde und des Hüters der kosmischen Wahrheit. "Chakra" im Sanskrit kann man mit Rad übersetzen, als Chakras werden unsere Energiezentren bezeichnet, von den sieben Hauptchakras ist der Solarplexus sicher am bekanntesten. Im Buddhismus gilt das Rad als Symbol der von Buddha verkündeten Lehre, es spielt auch als Lebensrad eine wichtige Rolle - das Rad der Wiedergeburten bzw. des Kreislaufs der Existenzen. In der christlichen Kunst versinnbildlicht das Kreuz im Rad (ursprünglich ein Sonnensymbol) den Weltenherrscher Jesus Christus. In der mittelalterlichen Kathedralarchitektur verdeutlicht die mittlere Fensterrose den gesamten Kosmos, ihre Nabe das göttliche Zentrum, um das sich die ganze Welt dreht.

jsm_2005Nicht unterschlagen möchte ich, dass das Rad auch zu einem Symbol der Vergänglichkeit wurde, insbesondere der Vergänglichkeit des Glücks, allein dadurch, dass es sich in beständiger Bewegung befindet. Die Römer ordneten es als Glückszeichen der Göttin Fortuna zu, im Mittelalter betonte es eher die Unbeständigkeit des Glücks. Uns allen ist bei Gewinnspielen das Glücksrad geläufig.

Die in der allgemeinen Erläuterung verwendeten Begriffe wie Bewegung, Energie, Kreis, Drehung, Zentrum, Nabe und Speichen lassen sich direkt auf AIKIDO übertragen. Das japanische Wort "kaiten" - allen bekannt aus unserer Verteidigungstechnik Kaiten-Nage - bedeutet drehen, rotieren, rollen wie ein Rad um seine Achse. Beim Kaiten-Nage führt der Nage den Uke an der Angriffshand (Speiche) auf der durch seine Körperachse (Nabe) zentrierten Kreisbahn. Der bedeutende Aikido-Meister Andr?ocquet, 8. Dan Aikido, hat seinen Schüler Rolf Brand bei der Ausführung des Kaiten-Nage einmal wie folgt korrigiert: "Du musst dort stehen, wo sich die Achse befindet. Wer dieses Zentrum verlässt, wird durch die Speichen des Rades erschlagen!" Dass wir diesen "sicheren Platz" in 2005 immer finden und einnehmen mögen, ist der Wunsch, den wir mit der diesjährigen Marke verbinden können.

Auch im Bereich der Fall-Techniken hat das Bild vom Rad eine wichtige Bedeutung. Wer zum Beispiel Mae-Ukemi geübt hat, weiß, wie sehr die Vorstellung vom Rad beim Erfassen der gewünschten Bewegungsfolge hilft.

Von der eher technischen Ebene komme ich nun zu einigen philologischen Überlegungen. Die zentrale Tätigkeit des Rades ist, wie wir gesehen haben, Bewegung. Das Verb "bewegen" ist transitiv, das heißt, es ist aktiv wie passiv zu verwenden: ich bewege jemanden, ich werde von jemandem bewegt. Es sind also männliches (Yang) wie weibliches Prinzip (Yin) eingeschlossen, die nicht nur im Aikido von größter Bedeutung sind. Das Reflexivpronomen ermöglicht eine weitere Formulierung: nämlich "sich bewegen". Das ist in unserer Budo-Disziplin essentiell.

Damit bin ich auf einer philosophischen Ebene des Aikido angelangt. Auf unserem Do können wir nicht stehen bleiben, wir müssen uns in mehrfachem Sinne des Wortes bewegen, nicht Stillstand ist gefragt, sondern Weiterentwicklung, in technischer wie charakterlicher Hinsicht. Ein weiterer Aspekt erscheint mir wichtig: wir alle kennen das Gefühl, das sich einstellt, wenn eine Bewegungsfolge im Zusammenspiel mit dem Uke harmonisch erscheint, man könnte es Glücksgefühl nennen. In diesem Augenblick haben wir jemanden bewegt und sind gleichzeitig bewegt, das heißt: berührt. Hier erhält "Bewegung" noch eine emotionale Komponente. In sich ruhend wie die Nabe des Rades können wir uns empfinden - als Zentrum der Kraft.

Das Rad besitzt auf einer Metaebene sogar kosmische Bedeutung, wie ich oben ausgeführt habe. Das ergibt für uns: gleichgültig in welcher Position innerhalb seines Kreislaufs wir gerade stehen, aktiv oder passiv, oben oder unten, innen oder außen - wir sind eingebunden in ein großes Ganzes.


Harald Ketzer
SC Steinberg 1953 e.V.